Der Saal im Kongresszentrum Hotel Kreuz Bern im Anfang April 2025 war dicht besetzt zum Vortrag von Dr. Marcel Berni, Dozent und Forscher an der MILAK ETH Zürich, zum Thema «Russische Streitkräfteadaption in vergleichender Perspektive». Die Anwesenden erhielten spannende Information und Überlegungen aus verschiedener Sicht zu vergangenen und aktuellen Kriegen, die auch für die Schweizer Armee zum Nachdenken anregen bezüglich Personal, Rüstung, Vorräte, Führung oder Ausbildung.

Dr. Berni hält Rückblick über die beiden Tschetschenienkriege 1991-1996 und 1999-2009. In seiner Einführung zog er Vergleiche Ukrainekrieg vs. Tschetschenienkrieg(e) zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Ein Unterschied ist beispielsweise die Religion der in beiden Kriegen betroffenen Zivilbevölkerung. Der geografische Vergleich zeigt die unterschiedlich grossen Territorien, topografisch die Ukraine als vorwiegend flaches Land und Tschetschenien als zerklüftetes, gebirgiges Land. Der Referent blickte auf den Mythos der Lernfähigkeit der russischen Armee. Die Tragödie der russischen Streitkräfte bestand darin, dass sie auf einen konventionellen Krieg in Tschetschenien und auf einen schnellen Enthauptungsschlag in der Ukraine vorbereitet waren. In beiden Kriegen waren sie daher nicht auf die Art der Kämpfe vorbereitet und mussten sich anpassen.

Der zweite Tschetschenienkrieg 1999 forderte unzählige zivile Opfer in einem von Russland nicht anerkannten Staat. Die Ukraine hingegen war schon ein unabhängiger Staat. Dies bedingt ganz verschiedene militärische Entschlüsse zum Einsatz der Truppen. Aus den Erfahrungen 2014 zog die Ukraine Konsequenzen und 2022 waren ihre Streitkräfte besser gerüstet und ausgebildet. Zudem waren sie sehr motiviert, es ging um ihr Land, um Freiheit und Unabhängigkeit. Im Gegensatz zu russischen Truppen denen kurzfristig die Invasionspläne befohlen wurden. Dazu kamen Söldner, die zu «Mütterchen Russland» keinen Bezug hatten. In der Ukraine hatte Putin nicht mit einem Zermürbungskrieg gerechnet.

Ein nächster Einblick galt der Militärstrategie und Doktrin. 1992 gab es nach dem Kalten Krieg einen ersten Entwurf einer russischen Militärdoktrin. Eine weiterentwickelte Doktrin ist jedoch seit 2014 unverändert. Luftwaffe und Artillerie gelten als wichtigstes Angriffsmittel und der Fokus liegt auf Drohungen eines Einsatzes von Kernwaffen. Das militärstrategische Vorgehen 2022 in der Ukraine erinnert an die Besetzung der Krim 2014 sowie Niederschlagung von Protesten im Kalten Krieg. 2022 erfolgte ein Strategiewechsel, seither liegt der Fokus auf der Ostukraine.

Dr. Berni wirft einen Blick auf die russische Militärorganisation. Im 1. Tschetschenienkrieg zeigte sich mangelnde Kooperation zwischen den Einheiten. Im 2. Tschetschenienkrieg wirkten dann kleinere Verbände schneller. Doch im Krieg zwischen Russland und der Ukraine rechnete Putin nicht mit Widerstand. Er ging zurück auf grössere Verbände. Es fehlte etwas Wesentliches, das zu lange ignoriert worden ist: Es fehlte an Führung aus einer Hand und an einem einheitlichen Befehlshaber.

Zudem gab es Mängel bei Aufklärungs- und Kommunikationssystemen und Probleme bei Luftnahunterstützung, Präzision und Munitionsbeschaffung. Materialengpässe werden durch Verbündete und Kooperationen kompensiert. Drohnen, Loitering Munition und elektronische Kriegsführung gewinnen schnell an Einfluss, wie andernorts auf der Welt auch. Russland sucht internationale Unterstützung bei China und Nordkorea.

Wichtige Themensind auch Ausbildung und Rekrutierung. Im 1. Tschetschenienkrieg fehlte es an Unteroffizieren. Die Bemerkung, dass manchmal gar ein Oberst die Aufgabe eines Uof übernehmen musste, gab bei aller Ernsthaftigkeit zum Schmunzeln Anlass. Die Zuhörer konnten es sich lebhaft vorstellen. Bei weiteren Aussagen fühlte man sich beinahe an die frühere Franz. Fremdenlegion erinnert. Mit finanziellen Anreizen für Dienstleistungen und Angeboten für Sträflinge (Knast oder Front) kamen diese Männer nach kurzen Ausbildungszeiten und schnellen Verschiebungen an die Front. Die Verluste an Mannschaft sind auf russischer Seite entsprechend hoch.

Dr. Berni zieht ein Fazit. Es braucht eine neue strategische Geduld für lange Kriege, wie Russland sie führt. Es braucht organisatorische Anpassungen, eine resiliente Personalpolitik sowie adaptive Ausrüstungen. Die wesentlichen Punkte sind: Vom Enthauptungsschlag zur Abnutzung. Enttäuschende terrestrische Leistungen werden durch nukleare Abschreckung kompensiert. Man stellt eine Tendenz zur Bildung von Oberkommandos fest. Die Materielle ad hoc Adaption in der Ukraine ist besonders ausgeprägt. Der Abnutzungskrieg in der Ukraine führt für Russland zu materieller und personeller Abhängigkeit von «befreundeten» Staaten. Grosse Verluste führen zu alternativen Rekrutierungs- und Ausbildungspraktiken.

Und zu guter Letzt: Weshalb steht eigentlich auf russischen Fahrzeugen das lateinische Z? Das russisch kyrillische Alphabet kennt kein Zeichen für unser Z. Und so stand da halt Z und nicht der russische Buchstabe. Mit Clausewitz könnte man sagen: «Es ist im Krieg alles sehr einfach, aber das Einfachste ist schwierig.»

Dass der Vortrag von Dr. Berni geschätzt worden ist, zeigte sich daran, dass gute Fragen gestellt worden sind, ausführlich und kompetent beantwortet, und auch beim Apéro wurde der Referent buchstäblich belagert und in lebhafte Gespräche einbezogen. Die Anwesenden haben die hoch interessante Vorlesung genossen und davon profitiert.

Four aD Ursula Bonetti

    

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